Adaptivität (er)leben: «Nur wer frei entscheiden kann, kann auch Verantwortung übernehmen»
Adaptivität (er)leben: «Nur wer frei entscheiden kann, kann auch Verantwortung übernehmen»
Seit zwei Jahren setzen sich die Entwicklerinnen der Primarschule Wittenbach intensiv mit dem Thema «Adaptives Lernen» auseinander. Als Dankeschön für ihren Einsatz wurde das Team an eine spezielle Retraite eingeladen nach St. Gallen – mit einem à la carte Menu – für Körper und Geist. Um selbst zu (er)leben, welche Kraft in Adaptivität steckt.
Reflexion, Definition aber auch Genuss
«Wir laden euch ganz herzlich auf eine etwas andere kulinarische Reise ein. Die Türen der Lokremise werden um 9.00 Uhr geöffnet, wo euch der Küchenchef bei feinstem Kaffee und Gipfeli begrüsst.» Mit diesen Worten wurde das Entwicklerinnen-Team der Primarschule Wittenbach von der Koordinatorin der Modellschule, Cornelia Bartolini, eingeladen an eine Retraite in St. Gallen. Küchenchef war Mark Riklin, Dozent für angewandte Soziologie und Geschichtenkurier. Ziel des Tages: Adaptivität (er)leben und mögliche Ziele für das dritte und letzte Modellschuljahr definieren.
Die Frage nach dem «WARUM»
Anders als bei einer üblichen Retraite mit fixem Programm erhielten die Entwicklerinnen eine Auswahl an Vor-, Haupt- und Nachspeisen in Form von Aktivitäten und Inputs aus denen sie auswählen durften. Die Angebote wurden partizipativ zusammengestellt: Alle hatten die Möglichkeit, Menu-Punkte zu gestalten. «Nur wer frei entscheiden kann, kann auch Verantwortung übernehmen», so Marc Riklin. Fix geplant war einzig die Einführung: Zum Start gab es einen «Gruss aus der Küche» in Form eines Kurzvortrags von Marc Riklin zum «Golden Circle», in dessen Zentrum die Frage nach dem «WARUM» steht. «Wer ein starkes Warum hat, weiss, weshalb er oder sie etwas tut», erklärte Marc. Ein starkes Warum zu haben ist für Entwicklerinnen entscheidend, da sie dieses in ihren Unterrichtssettings realisieren und Lernende davon profitieren können.
Alles darf – nichts muss
Danach wurden die verschiedenen «Speisen» des Menus resp. Workshop-Angebote präsentiert und jede Entwicklerin stellte ihr persönliches Menu zusammen. Den Entwicklerinnen war freigestellt, wie viele der Angebote sie nutzen wollten. «Notiere dir, was du heute machen kannst, sei adaptiv – auch mit dir selbst», lautete das Motto. Zur Unterstützung für die Reiseplanung erhielten die Entwicklerinnen ein Minibook für in die Hosentasche mit den verschiedenen «Speisen», resp. Inputs und einem Plan, wo in St. Gallen diese stattfinden werden. Als mentale Entlastung war in diesem Minibuch die Seite «Geschichtenrettung gedacht. Dort konnten Ideen und Gedanken notiert werden, um mental wieder frei und bereit zu sein für den nächsten Menu-Punkt. Zwei fixe Punkte waren das Mittagessen im Tibits am Bahnhof und ein gemeinsamer Abschluss in der Analog-Bar.
Das Menu «Wittenbach»
Nachdem alle Inputs zusammengetragenen wurden, sah die Menu-Karte wie folgt aus:
VORSPEISEN:
I Can Poet
(OST, 5. Stock, drinnen)
Binäre Bahnhofsuhr
(hingehen und einer fremden Person erklären, wie sie funktioniert) (zeitunabhängig)
HAUPTGÄNGE
Mikrokosmos Bahnhof
**(**Wartehäuschen Bahnsteig 7, Input von Marc Rikli)n (zeit- und ortsabhängig)
Breakout
(persönliche Reflexion, Pause, Dachterrasse, OST, 5. Stock) (zeitunabhängig)
KI-Blitzlicht
**(**Roter Platz, Treffpunkt Brunnen, Input von Cornelia Bartolini) (zeit- und ortsabhängig)
Brunnenchallenge
(Verschiedene St. Galler Brunnen anlaufen und Punkte auf Karte markieren) Start Leonhardsbänkli) (zeitunabhängig)
Busfahrt mit Diskussion zum Thema Schule ohne Noten
(QR-Code zum Blog von Philip Wampfler zum Thema Schule ohne Noten, lesen, darüber diskutieren) (zeitunabhängig)
Positive Streiche spielen
**(**Büro für positive Streiche, Frongartenstrasse 11, Input von Marc Riklin) (zeit- und ortsabhängig)
Reiseführer des Zufalls
(Treffpunkt Hof mit zwei Tischen, St. Gallen anders entdecken gemäss Inputs aus dem gleichnamigen Reiseführer), (zeitunabhängig)
Ladestation Café Saint Galle
(sich hinsetzen und reflektieren) (zeitunabhängig)
DESSERT
Reflexion
(in der Analog-Bar) (zeit- und ortsabhängig)
Wichtig: Der am Morgen gemachte Plan durfte – ganz adaptiv – im Verlauf des Tages von den Entwicklerinnen angepasst werden. Auch die Sozialform war freigestellt. Die Menu-Punkte durften einzeln, zu zweit oder in der Gruppe genossen werden. Einzige Vorgabe: Leerzeiten sollten genutzt werden, um die Gedanken zu Ordnen für die abschliessende Reflexionsrunde zur Frage «Was macht das Format mit mir, was bedeutet das für mein adaptives Handeln im Unterricht?» zu ordnen. Die Abschlussrunde fand in der Analog-Bar statt.
«Wir haben viel zu wenig Zeit, um einfach mal nachzudenken»
Das Dessert, die abschliessende Reflexionsrunde in der Analog-Bar, zeigte: Nicht alle Menu-Punkte wurde genutzt. Und: Es war eine Wohltat, in einer Retraite sich mit Themen auseinanderzusetzen, die selbst gewählt waren. Es hat gutgetan, auch mal einen Punkt auszulassen, um einen genossenen Menu-Punkt nochmals zu hinterfragen und seine Gedanken zu ordnen. Sehr angenehm war auch die Möglichkeit, die Sozialform selbst zu wählen, sich ausklinken zu können aus einer Gruppe und einen ruhigen Ort aufzusuchen. Die Rundfahrt im Bus zum Thema Schule ohne Noten gab durch den gemeinsam definierten Einstiegsort und Ausstiegsort dem Thema einen Rahmen, ein Start und ein Ende der Diskussion. Sehr geschätzt wurde die Möglichkeit, einfach mal einen Tag zum Denken zu haben. «Wir haben viel zu wenig Zeit, um einfach mal zu denken”, so ein wichtiges Fazit aus dem Tag.
Mut haben, sich mehr zu erlauben
Die absolut adaptive Gestaltung hat viel Reflexion ausgelöst. «Wie können wir das Erlebte übertragen auf unseren Unterricht? Was braucht meine Klasse, was brauche ich?» Diskutiert wurde auch das Thema «Bedürfniskonflikt»: «Wenn mich etwas beschäftigt, kann ich mich nur schwer auf etwas anderes einlassen kann» – das geht sicherlich auch den Kindern oft so im Unterricht! Wir haben lebenslang gelernt, dass wir nicht abweichen. Zum adaptiven Lernen gehört aber auch dazu, dort wo es Sinn macht, Lernenden und sich selbst als Lehrperson die Erlaubnis zu geben, auf Bedürfnisse einzugehen und vom Plan abzuweichen.
Die gesammelten Erkenntnisse:
- Wir müssen uns bewusst Zeit zum Denken nehmen.
- Wir müssen präsent sein, einfach auch mal «nur» da zu sein, um angesprochen zu werden
- Wir müssen einen Tag weniger voll packen um mehr präsent zu sein, damit wir ansprechbar bleiben
- Man darf umplanen, Umwege machen. «Umwege erhöhen die Ortskenntnis!»
- Nicht nur sich selbst, sondern auch anderen Umwege erlauben!
- Mehr Mut haben, sich mehr zu erlauben – um eben auf die verschiedenen Bedürfnisse eingehen zu können.
- Auch mal was auf die Seite legen, wenn Zeit noch nicht reif ist (Formulieren und weglegen).
- Freiheit geben und mit Freiheit umgehen muss trainiert werden!
- Aushalten können, wenn Angebote von den Lernenden nicht angenommen werden.
- Dies nicht als Widerstand sehen, sondern als «ein im Moment nicht können»
- Social Battery entlädt unterschiedlich je Person!
- Wir können uns aufeinander verlassen: Ich gehe allein in eine andere Richtung mit einem guten Gefühl: Ich weiss, die Kolleginnen erzählen mir dann schon, was war!
- Für Diskussionen klar definierte Gefässe haben (mit Anfang und Ende, analog Busfahrt)
Wie weiter?
Diese Erkenntnisse nehmen wir nun mit in die Modellschularbeit in Wittenbach, unter anderem zur Zieldefinierung für das dritte und letzte Modellschuljahr.
Wir wollen mehr Mut zeigen, auch mal eine «ungeschriebene Menu-Karte» zu wählen und sie entstehen lassen aufgrund der aktuellen Bedürfnisse – von den Lernenden und den Lehrpersonen.
Bereits eingeführt haben wir im auf die Retraite folgenden Schleifenwechsel ein Zeitfenster «zum Denken» – in dem es keinen Auftrag gibt, sondern «einfach» reflektiert werden darf.
Antje Bechtel | Sandra Steiner Matt
Lehrperson PS Wittenbach | Specialist Digitale Transformation PHSG
Koordinatorin | Begleitperson PHSG
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